Die zweite Ehefrau
Spätestens 1924 lernt Adolf Wüster, wahrscheinlich in München, die zu diesem Zeitpunkt etwa 23jährige Nadjeschda Gavrichenko kennen. Von Anfang an nennt er sie Nadine. Das ist jedenfalls aus dem mit dem Bleistift gezeichneten Porträt zu schließen, das er 1924 in München von ihr anfertigt (AK69).
Nadjeschda wurde 1901 in Sewastopol (Ukraine) geboren und brachte in die Beziehung mit Adolf eine kleine Tochter aus erster Ehe mit einem schwedischen Staatsbürger ein, die 1921 in Stockholm das
Licht der Welt erblickt hatte.(1)
Am 18. Juli 1930, um 11 Uhr 15, schliessen Nadjeschda und Adolf im 15. Arrondissement von Paris den Bund der Ehe. (2) Sie wohnen bereits seit Monaten in der 4 rue Belloni. Als Trauzeugen fungieren Nicolai Pavlovich Sablin (1880-1937), ein Onkel Nadines, und Stephan Schwarz, ein Freund von Adolf. Nikolai Pavlovich Sablin, ein ehemaliger ranghoher, hochdekorierter Marineoffizier im engsten Umfeld der Zarenfamilie, geht nach der Februarrevolution erst nach Odessa und von dort aus ins Exil. Über verschiedene Zwischenstationen, darunter Berlin, landet er schlussendlich in Paris. Dort ist er ein prominentes und führendes Mitglied russischer Exilorganisationen.
Der in der Hochzeitsurkunde genannte Trauzeuge Adolfs, „Stéphan Schwart“, dort als Künstler angegeben, ist demgegenüber weniger greifbar. Sicher ist, dass sein Nachname „Schwarz“ ist, er aus Österreich stammt und in der 22 rue de la Chaise im 7. Arrondissement wohnt.(3) Um welche Art von Künstler es sich bei ihm handelt, habe ich bisher nicht klären können. Allerdings scheint er, wie auch Adolf Wüster, von seiner Kunst allein nicht das gewünschte Einkommen erzielt zu haben. Um den Jahreswechsel 1932/33 verkauft er den Musées Nationaux ein Gemälde und zwei Zeichnungen. (4) 1943, inzwischen wohnt er in Toulouse, bietet er dem Louvre eine Allegorie der Schule von Fontainebleau, ein Gemälde Quentin Warins sowie ein Portrait Charles van Loos an. (5)
Doch zurück zu Nadine. Nadine und Adolf verbindet mehr als nur eine Liebesbeziehung. Sie ist nicht nur Hausfrau und Mutter, sondern unterstützt in umfangreichen Maß Adolf auch in seinen
beruflichen Aktivitäten. Zu diesen gehören, das dürfte überraschen, auch die gemeinsame Tätigkeit für die Abwehr, die bis zum Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges im Sommer 1941
andauerte. (6)
Ebenso ist sie eng in seinen Kunsthandel eingebunden und wohl von Anfang an über alle Transaktionen bestens informiert. Zudem sorgt sie dafür, dass sich die Kundschaft, also Kunsthändler und Vertreter deutscher Museen bei ihren Besuchen in Paris wohlfühlen können. Offenbar gelingt ihr das so gut, dass sich im Februar 1943 etwa der Kurator des Rheinischen Landesmuseums in Bonn, Dr. Franz Rademacher, mit zwei kleinen, kunstgewerblichen Gegenständen im Wert von 250 RM, die er in der Antiquitätenhandlung N. Tabbagh erworben hatte, für die seit 1940 vielfach gewährte Gastfreundschaft bedankt.(7) Ein besonderes Verhältnis verbindet die Wüsters mit dem Direktor des Kaiser-Wilhelm-Museums in Krefeld, Dr. Friedrich Muthmann. In den an ihn adressierten, in einem höchst vertraulichen Ton verfassten Briefen Nadines wird das sehr deutlich. Neben den geschäftlich zu klärenden Angelegenheiten finden stets auch Details aus ihrem Privatleben in diesen Briefen Erwähnung. (8)
Die Geschäftstätigkeit Adolf Wüsters ist, besonders nach seiner Anstellung bei der Deutschen Botschaft und den zahlreichen damit verbundenen Dienstreisen, ohne die Mitarbeit seiner Frau kaum noch
vorstellbar. Neben der Buchhaltung sorgt sie in größerem Umfang für die Erledigung der Korrespondenz und die Abrechnungen mit den Museen.(9) In seinem Bericht zur „Pariser Reise in der Zeit vom
6.-15. 2. 1943“ schreibt der Leiter der Kulturabteilung der rheinischen Provinzialverwaltung Hanns Joachim Apffelstaedt, dass er einen Betrag nicht habe abrechnen können, weil Frau Wüster
erkrankt gewesen sei und er das bei seiner nächsten Reise nach Paris nachholen wolle.(10)
[Hier wird noch mehr zur Einbindung Nadines in die Geschäfte ihres Mannes nachzutragen sein. Auch zu Verkäufen, die allein unter ihrem Namen stattfanden. ]
Am 23. Juli 1992 stirbt Nadine in Cannes. [11] Allem Anschein nach verbrachte sie die letzte Zeit ihres Lebens im Haus oder zumindest in der Nähe ihrer Tochter Helene, die unter ihrem Mädchennamen Hellichius in Le Cannet an der Stadtgrenze zu Cannes wohnte. [12]
Auch Nadine wird auf dem alten Friedhof in Barbizon beigesetzt, an der Seite Adolfs.
1 AdP: Recensement de population 1931, Cote: D2M8 423
2 AdP: Mariages 1930, XV. Arr., Cote 15M 336
3 AdP: Recensement de population 1931, 07, Saint Thomas d’Aquin, Cote: D2M8 383
4 AN: Archives des musées nationaux, Musées Nationaux (série U), Cote: 20144795/25
5 AN: Archives des musées nationaux, Département des peintures du musée du Louvre (série P). volume 4 (sous-série P5): Cote 20144790/51
6 PAAA: RZ214-101226
7 ALVR 11413, Rademacher an Provinzialverwaltung , 23.02.1943 und ALVR 22790, Schreiben
Apffelstaedts vom 26.02.1943
8 Stadtarchiv Krefeld 4/4055
9 Stadtarchiv Krefeld 4/4054
10 ALVR 11413
11 Im dortigen Sterbeverzeichnis ist sie unter ihrem Mädchennamen verzeichnet. https://geneafrance.com/france/deces/?deces=15031738 [abgerufen 15.09.2020]
12 Helene Tatjana Gabrielle Hellichius verstarb dort am 18.08. 2005 > https://geneafrance.com/france/deces/?deces=27047892 [abgerufen
15.09.2020]